Die 'Electric Super Dance Band' ist zurück – und macht weiterhin, was ihr Spaß macht. Deichkind arbeiten aber gleichzeitig daran, aus der Band ein Wirtschaftsunternehmen wie die deutsche Blue Man Group zu erschaffen. Die CD 'Arbeit Nervt' ist dabei nur die Visitenkarte, um die Leute auf sich aufmerksam zu machen!
„Es ist so, dass wir da auch einen neuen Wirtschaftszweig anstreben. Eine Art Franchise-Unternehmen, bei dem wir neue Gruppen bilden wie 'Deichkind Junior' oder 'Deichkind International'. Dann können wir andere Leute in unserem Korsett auf die Bühne schicken – wie bei der Blue Man Group“, erklärt Philepp die Entwicklung Deichkinds. „Wir definieren uns nicht mehr als Band, sondern als Unterhaltungsgruppe. Zum Beispiel überlegen wir auch, ob wir großen Betrieben anbieten sollen, dass ihre Mitarbeiter als Team mit einem eigenen Auftritt bei einer Deichkind-Tour gestärkt werden. Sonst machen sie ja so Sachen wie Bungeejumping und Wildwasserfahrten. Der Sinn dieser ganzen Verkleidung war natürlich auch aus der Angst heraus geboren, auf die Bühne zu gehen mit Techno-Beats, die eigentlich in unseren Ohren erstmal schrecklich klangen.“
Schrecklich klingt größtenteils auch, was auf ’Arbeit Nervt’ zu hören ist. Dabei wurde die „Technoisierung“ der Band relativ schleichend vorangetrieben. ’Limit’ ging 2002 schon in diese Richtung und auf dem St.-Pauli-Sampler 'Heimvorteil' präsentierten sie dann 2004 'Lady G-String'. Aber erst beim dritten Album ’Aufstand im Schlaraffenland’ wurde der Elektro-Ausflug auf die Spitze getrieben – und wird nun mit ’Arbeit Nervt’ noch einmal verstärkt.
Die Arbeitsweise dahinter erklärt DJ Phono folgendermaßen: „Du kannst dir das so vorstellen, dass die Musik wie Farbe beim Action Painting an die Leinwand geworfen wird. Die Forderung ist dabei aber, dass nicht nur naiv gearbeitet wird. Es soll nicht nur spontan wirken, sondern auch Substanz gewinnen. Wobei es schon faszinierend ist, diese Kraft der unmittelbaren Eruption zu erleben. Wir machen damit auch gar nicht unbedingt was ganz Neues. Wir haben damit bestimmt nicht das Rad neu erfunden. Aber für jeden Einzelnen von uns geht es darum, seine persönliche Grenze zu erreichen. Das ist wie eine Gruppentherapie.“
Wahrscheinlich wird deshalb aus gruppentherapeutischen Gründen im Video zum Titeltrack auch eine riesige Bierschlacht veranstaltet. Einfach mal die Sau raus lassen. Will doch jeder. Siehe den Songtext dazu: „Priester, Putzfrauen, Pizzabäcker, Proktologen – wollen lieber popeln, pöpeln, prügeln, pogen./ Lehrer, Kellner, Gärtner, Bänker, Broker, Richter – sehnen sich nach Druckbetankung durch den Trichter.“
Therapeutisch sind auch die Lyrics von '23 Dohlen’ zu verstehen. Vögel krähen, die Gedanken fangen an zu kreisen. Warum 23? Was steckt dahinter? Die Lösung: Es geht genau darum, Zahlenmystiker auf die falsche Fährte zu führen. Bitte nicht drüber nachdenken!
Aber es darf auch mal wie mit dem poppig-süßen ’Luftbahn’ gekuschelt werden: „Das Stück 'Luftbahn' ist ein sehr wichtiger Track, weil er als erstes ziemlich cheesy wirkt, aber auf seine Art sehr ehrlich ist. Viele Ideen entstehen sehr schnell. Wir gucken oft erst später, ob das was ist oder nicht. Bei 'Luftbahn' dachten wir, dass die Nummer Energie hat und auf jeden Fall aufs Album muss. Mit diesem Stück sind wir ja fast schon radiotauglich.“
Den Vorwurf, mit 'Travelpussi' den Kontakt zur Porno-Industrie zu suchen und richtig Schotter zu machen („Sex sells“!), wird aber vehement von sich gewiesen. Werbung für Sextoys wollen sie nicht machen. Auch hier geht es eher um einen therapeutischen Ansatz. Lasst uns doch einfach mal darüber reden: „Es war eher die Faszination dieses Phänomens, da wir viel auf Autobahnen unterwegs sind. Wir haben uns einfach gefragt, ob sich die Leute das als Gag aus dem Automaten ziehen oder tatsächlich zum Gebrauch. Die Skurrilität dieses Dings hat unsere Phantasie angeregt. Wobei gesagt werden muss, dass ein Thema wie Sexualität bei Deichkind diskutiert wird, weil dieser Bereich unglaublich tabuisiert ist – selbst im Jahre 2008. Ich würde 'Travelpussi' als Impuls sehen, überhaupt über Sexualität reden zu können.“
Fazit: Operation geglückt, Patient tot! Deichkind reduzieren sich musikalisch auf das Minimum – um Raum für was Größeres zu schaffen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass irgendjemand das ganze Werk am Stück durchhört, wenn er nicht dazu gezwungen wird. Allerdings geht es hier auch eher um die Live-Performance, zu der ’Arbeit Nervt’ eben den durchgeknallten Soundtrack liefert. Also Bauarbeiterweste anziehen, Wasserpistole betanken und abraven – zackizacki!
Mehr Infos: http://www.deichkind.de
CD voraussichtlich ab 17. Oktober 2008 im Handel erhältlich.
Das könnte dazu passen:
Jacques Palminger And The Kings Of Dub Rock – Mondo Cherry
Märtini Brös – The MB Factor
Live und in Farbe 2008: 1.11. Schwerin – Sport- und Kongresshalle (Pioneer Alpha Festival) *** 26.11. Hamburg – Kampnagel (Öffentliche Generalprobe) *** 27.11. Kiel – Max *** 28.11. Hannover – Capitol *** Bremen – Aladin Music Hall *** 30.11. Osnabrück – Rosenhof *** 2.12. Mannheim – Capitol *** 3.12. Düsseldorf – Stahlwerk *** 5.12. Bielefeld – Ringlokschuppen *** 6.12. Dortmund – Westfalenhalle *** 8.12. Wiesbaden – Schlachthof *** 9.12. Zürich – Xtra Limmathaus *** 10.12. Ulm – Roxy *** 11.12. München – Muffathalle *** 13.12. Salzburg – Gusswerk *** 14.12. Lahr – Universal DOG *** 15.12. Saarbrücken – Garage *** 16.12. Stuttgart – Theaterhaus *** 18.12. Berlin – Postbahnhof *** 19.12. Leipzig – Werk 2 *** 2012. Hamburg – Docks